Wer schreibt, der bleibt. Ich schreibe mir nicht alle Reden auf, die allermeisten Ansprachen halte ich frei. Und doch gibt es besondere Anlässe, in denen das geschriebene Wort unbedingt notwendig ist und es lohnt sich, in Ruhe nachzulesen. Hier finden Sie u.a. einige Reden und Vorträge aus den Jahren 2023/24 sowie meinen Brandbrief an die Telekom zur Wiederherstellung des Mobilfunks in Osthofen.
Reden, Vorträge und mehr
Sehr geehrter Herr Hoettges,
sehr geehrter Herr Zieg,
seit Mitte März funktioniert in Osthofen so gut wie kein Mobilfunk mehr. Dies hängt augenscheinlich mit der Umrüstung der Antennen und der Inbetriebnahme des provisorischen Antennenstandortes zusammen. Ein Zustand, der insbesondere für eine 10.000 Einwohner große Stadt wie Osthofen unzumutbar, ja unerträglich ist.
Ich hatte bereits kurze Zeit nach den Ausfällen versucht, Informationen zur Ursache zu erhalten – Fehlanzeige. Ganz Osthofen fischt im Trüben. Jeden Tag erreichen das Rathaus Meldungen von aufgebrachten Bürgerinnen und Bürgern, deren Unmut ich uneingeschränkt teile. Jeder weiß, wie abhängig wir von der Telekommunikation sind – am besten doch wohl die Telekom!
Bis heute höre ich nur Gerüchte, warum in Osthofen der Mobilfunk nicht geht. Ihnen gemein ist, dass offenbar irgendwelche Teile fehlen sollen oder von Seiten der Telekom nicht fristgerecht bestellt wurden.
Sehr geehrte Herren,
Ihnen als Vorstandsvorsitzendem bzw. Kommunalbeauftragtem muss doch klar sein: Menschliches Versagen kommt auf allen Ebenen vor, doch wenn es so gewesen sein sollte wie die Gerüchteküche sagt, dann sollte man offen damit umgehen und die Menschen nicht im Unklaren lassen. Dadurch hält die Telekom keinen einzigen Kunden, im Gegenteil!
Weil mich in meinem Urlaub immer wieder verzweifelte und genervte Bürgerinnen und Bürger privat angefragt hatten, hatte ich von Österreich aus Ihren Kollegen angeschrieben, der mir nach mehreren Telefonaten als Ansprechpartner genannt wurde. Seine lapidare Antwort, dass die Angelegenheit vier bis acht Wochen dauern könne, weil der provisorische Funkturm noch nicht in Betrieb wäre, hat dem Fass den Boden ausgeschlagen. Seine Mitteilung, dass ich mich gerne wieder nach dem 8.4. an ihn wenden könne, lasse ich hier unkommentiert, weil ich sonst verbal entgleisen würde. Kundenservice sieht anders aus!
Es ist ein Kommunikationsdesaster von Seiten der Telekom, dass hier die Verwaltung, die Bauträger und vor allem die auf die Telekommunikation angewiesenen Bürgerinnen und Bürger im Regen stehen gelassen werden.
Ich erwarte umgehend eine Stellungnahme, warum die provisorischen Masten, die seit Monaten genehmigt und auch längst gebaut und bestückt sind, offenbar noch immer nicht funktionieren, vor allem aber eine verbindliche Aussage darüber, bis wann der Mobilfunk in Osthofen wieder funktionieren wird. Ebenso halte ich eine öffentliche Entschuldigung der Telekom und Entschädigung der Mobilfunkkunden für angebracht.
Sehr geehrter Herr Hoettges, sehr geehrter Herr Zieg,
es ist für mich vollkommen unverständlich, warum man hier das gegenüber mir und dem Stadtrat immer wieder beteuerte Vorhaben nicht in der richtigen Reihenfolge umsetzt wurde: nämlich, zuerst die neuen Masten ans Netz, dann den alten Turm abschalten. Sicherlich ist dies technisch eine Herausforderung, doch das ist das Problem der Telekom und kann doch nicht auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger oder der Verwaltung ausgetragen werden!
Die politischen Gremien, die Verwaltung und auch die Bauträger haben in Osthofen alle fristgerecht ihre Hausaufgaben gemacht und alles in die Wege geleitet, damit ein reibungsloser Umzug der Masten stattfinden kann. Der Ablauf war und ist seit Monaten bekannt, war eng mit der Telekom abgestimmt und wurde genauso auch den Bürgerinnen und Bürgern kommuniziert.
Ich erwarte, dass die Telekom Ihren Verpflichtungen umgehend nachkommt und alle möglichen personellen und materiellen Ressourcen mobilisiert, damit Osthofen endlich wieder den Mobilfunk nutzen kann. Die Verbandsgemeindeverwaltung und die Bauträger habe ich Kopie gesetzt. Ich werde Ihre Stellungnahme und auch diese Mail an den Stadtrat und an die entsprechenden Pressestellen, die mich anfragt haben, weiterleiten.
In Erwartung Ihrer Stellungnahme verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
Thomas Goller, Stadtbürgermeister in Osthofen
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Demokratie beginnt mit dir!“ So lautet der Aufruf, ja der Appell der heutigen Demonstration für die Demokratie. Ein wunderbar passender Slogan, der zeigt, dass die Demokratie uns alle betrifft, uns alle angeht und von uns getragen werden muss. Denn die Demokratie ist nicht einfach eine Staatsform ist, sondern sie ist– wie es der SPD-Politiker Ludwig Schwamb einmal formulierte – ein „Lebensprinzip“.
Ludwig Schwamb, der als Jurist in der Weimarer Republik an der Ausarbeitung der auch für Osthofen gültigen Hessischen Gemeindeordnung beteiligt war, stand für seine politischen Überzeugungen ein und bezahlte dafür schließlich mit dem Leben. Er trat der 1933 errichteten nationalsozialistischen Diktatur entgegen, in der man ihn aufgrund seiner politischen Zugehörigkeit von all seinen Ämtern entlassen hatte. Er engagierte sich trotz aller drohenden Repressalien im Widerstand und war 1944 an den Vorbereitungen für das Attentat vom 20. Juli auf Adolf Hitler beteiligt. Dafür wurde er gut fünf Monate später gehängt.
Das Beispiel Ludwig Schwamb, dessen Namen die ehemalige Mainzer Straße hier direkt neben uns trägt, verdeutlicht in eindrücklicher Weise, dass es, selbst in den Zeiten, in denen mit aller Macht versucht wurde, die Ideen der Demokratie zu unterdrücken, Menschen gab, die mutig genug waren, sich für die Demokratie stark zu machen. Das gilt für Ludwig Schwamb genauso wie für den SPD-Reichstagsabgeordneten Otto Wels, der sich in einer historischen Rede gegen Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ stemmte.
Mit diesem Gesetz, das Hitler verschleiernd „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ nannte, wurde die demokratische Staatsordnung aufgehoben, sodass sich der Reichstag im März 1933 defacto selbst entmachtete. Der Reichstagsabgeordnete Otto Wels wies im Namen der SPD eindrücklich auf die Gefahr des Missbrauchs der staatlichen Gewalt hin und rief Hitler im Reichstag entgegen: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten!“
Mit diesen Ideen meinte er demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, politische Teilhabe und Solidarität – Grundwerte, die sich aus den Menschenrechten ableiten und für die die Menschen u.a. während der Revolution von 1848/49 eintraten und bereit waren
Auch die Osthofener Turner der TGO zogen damals während der so genannten „Reichsverfassungskampage“ im Mai 1849 in die Pfalz, um die errungenen Freiheiten zu verteidigen – leider ohne Erfolg.
Erst 60 Jahre später im Jahre 1919 konnte in Weimar die erste Demokratie auf deutschem Boden errichtet werden. Frauen war hier erstmals wahlberechtigt. Dazwischen lagen drei deutsche Einigungskriege und der Erste Weltkrieg. Die Bundesrepublik knüpft mit dem Grundgesetz seit 1949 an die demokratische Tradition Deutschlands an.
Wir alle können dankbar sein, dass es uns vergönnt ist, in diesem demokratischen Deutschland zu leben. Wir können dankbar sein, dass unsere Demokratie wehrhaft ist und dass das Gesetz unsere Verfassung vor Gefahren zu schützen versucht.
Das Gesetz ist nur das eine. Denn Demokratinnen und Demokraten fallen nicht einfach vom Himmel. Und darum tut gerade in unserer, durch mancherlei Krisen und Probleme geprägten Welt, die Rückbesinnung auf die eigentliche Werte der Demokratie gut. Darum danke ich der Lydia-Frauengruppe der evangelischen Kirche in Osthofen im Namen aller heute hier anwesenden kommunalpolitischen Vertreterinnen und Vertreter, insbesondere der ebenfalls anwesenden Vizepräsidentin des Rheinland Pfälzischen Landtages, Kathrin Anklam Trapp, und unseres Landrats Heiko Sippel für ihre Initiative, die uns hier heute am Platz an der Kleinen Kirche vor dem Alten Rathaus zusammengeführt hat.
Denn wir sind hier, um gemeinsam ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, für die Möglichkeit, die eigene politische Position zu wählen, unsere Gesellschaft und unsere Art zu leben selbst mitzubestimmen. Die Demokratie hat es nicht leicht in der Welt, gerade wenn viele Menschen unzufrieden sind, die Wirtschaft in Bedrängnis kommt und die Parolen derer, die die Demokratie untergraben, lauter werden.
Die Demokratie hat aber nicht nur ein Problem, wenn die Akzeptanz in der Bevölkerung und der Politik schwindet. Sie hat ein Problem, wenn die Putins und Trumps dieser Welt die Werte der Demokratie mit Füßen treten und all jene verhöhnen, die sich für sie einsetzen. Sie hat ein Problem, wenn Wahlen, auch Kommunalwahlen, auf die leichte Schulter genommen werden und vom Wetter, von der eigenen Muse oder dem persönlichen Terminkalender am Wahltag abhängig sind.
Wer die Demokratie stärken will, wählt demokratische Parteien, engagiert sich als Wahlhelfer, verteidigt die Demokratie in Diskussionen und oder nimmt an Veranstaltungen wie der heutigen Teil, um Flagge zu zeigen.
Wer die Demokratie stärken will, der muss sich kritisch mit dem notorischen Dauergrollen, das uns aus den Sozialen Netzwerken entgegenwummert, auseinandersetzen und sich aus fundierter Quelle seine eigene Meinung bilden.
Wer an der Demokratie zweifelt, der muss sich fragen lassen: Wo, wenn nicht in der Demokratie gelingt es zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger, unterschiedliche Meinungen ernst zu nehmen, Kompromisse zu schließen, Minderheiten zu schützen und die politische Basis mit einzubeziehen?
Einmal mehr lehrt uns die Geschichte, dass eine Demokratie ohne Demokraten in hohem Maße gefährdet ist.
Um unzufriedene Menschen zu finden, genügt ein Blick in instagram, facebook, twitter und Co, wo es aus der Distanz und mit Hilfe von allerlei technischen Hilfsmitteln leichter denn je ist, Hass zu schüren, Fake-News zu verbreiten und eben jenen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu untergraben, den die Demokratie fördern will.
Dass dies nicht den Politikern im Bundestag, sondern auch den Kommunalpolitikern, den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vor Ort widerfährt, zeigt eine aktuelle Studie in der Wormser Zeitung. Verwundert es da, wenn vielerorts immer weniger Menschen bereit sind, sich für ein kommunalpolitisches Ehrenamt zu engagieren?
Das ist bedenklich, denn das kommunale Ehrenamt bildet die Basis der Demokratie. Es ist der Ort, an dem für die Menschen vor Ort oftmals am meisten bewegt werden kann. Daher gilt mein Dank an dieser Stelle allen kommunalpolitischen Vertreterinnen und Vertreter im Stadtrat, im Verbandsgemeinderat und im Kreistag, an all meine Bürgermeisterkolleginnen und Kollegen und allen Wählerinnen und Wählern, die sich engagieren, die sich zur Wahl stellen, die wählen gehen und sich zur Demokratie bekennen. Er gilt aber auch all jenen, die sich bereits in der Kita, vor allem aber in den Schulen, in Beiräten, in den Vereinen, in all jenen Bereichen, in denen man sein Wahlrecht nutzen kann, engagieren.
Rufen wir uns in diesem Sinne nochmals die Worte Ludwig Schwambs in Erinnerung. „Demokratie ist nicht nur eine Staatsform, sondern ein Lebensprinzip.“
Investieren wir also heute gemeinsam in eine starke Demokratie und in den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Denn die Demokratie bietet uns – wenngleich auch sie naturgemäß nicht jeden zufrieden stellen kann – die Möglichkeit, Differenzen zu überwinden und gemeinsam kontinuierlich an Verbesserungen für die Zukunft zu arbeiten.
Demokratie bedeutet die Anerkennung der Rechte und Meinungen jedes Einzelnen, unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht oder sozialen Status. Sie bildet den Kitt unserer Gesellschaft und den haben wir gerade in stürmischen, von Krisen und Sorgen beschwerten Zeiten, bitter nötig. Denken wir immer an das Motto des heutigen Abends, „Demokratie beginnt mir dir“, sie beginnt mit uns, sie braucht uns.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
(TITELBILD / PLAKAT / Als die Revolution nach Osthofen kam…)
in diesem Jahr jähren sich die bewegenden Ereignisse des Jahres 1848, die die meisten von uns nur aus den Geschichtsbüchern kennen, zum 175. Mal. Beschrieben wird dort in größeren Zusammenhängen grundlegende Themen, wie die Gewährung der Märzforderungen, die Konstituierung des Paulskirchenparlaments in Frankfurt.
(Bild: Barrikadenkämpfe in Berlin)
Man ließt viel über die Ursachen des Scheiterns der Revolution und die mittel- und langfristigen Wirkungen, die von ihr ausgingen und die letztlich auch der eigentliche Grund sind, warum im Jubiläumsjahr derart viele Veranstaltungen zum Thema stattfinden.
Es gibt angesichts ihrer Bedeutung eine Menge Literatur zur Revolution mit den unterschiedlichsten Fragestellungen.
Unsere Fragestellung für heute Abend ist eigentlich ganz einfach. Sie lautet:
Wie sah die politische Landkarte 1848 in Deutschland aus?
(Bild: Politische Karte: Der Deutsche Bund 1815-1866)
Wie erlebten die Menschen die Revolution in Osthofen?
(Bild Osthofen 1850, vom Schnapp)
Um dies beurteilen zu können, braucht es Quellen. Zeitungen, Flugblätter, Karikaturen und vieles mehr beleuchten auch meist nur den großen Kontext der Revolution.
(Bild: Flugblätter aus der Märzrevolution)
Man muss Glück haben, um authentische Dokumente zur Revolution zu finden. Und wir in Osthofen haben sehr großes Glück, was dies betrifft. Deshalb darf ich Ihnen eine ganz besondere Quelle vorstellen, die ich gemeinsam mit Dr. Gerold Bönnen im großen Rheinhessen-Jubiäumsjahr 2016 veröffentlichen konnte.
„Was Deutschland im Großen, das ist Osthofen im Kleinen“ Es handelt sich dabei um ein Zitat aus der Edition der Tagebücher des Osthofener Gutsbesitzers, Bürgermeisters und Landtags-abgeordneten Johann Weißheimer II., die uns direkt in das Revolutionsjahr 1848 nach Osthofen führt. Doch zunächst zum Verfasser:
Weißheimer war zwischen 1831 und 1843 großherzoglich hessischer Bürgermeister, gehörte 1848/49 dem Bezirksrat an, war im Landwirtschaftlichen Verein tätig, trat oftmals als Wahlmann bei Landtagswahlen und wurde 1849 schließlich als einziger Gutsbesitzer von den Demokraten in die erste Kammer des Hessischen Landtages gewählt.
(BILD: Johann Weißheimer & Ottlia Best)
Im Jahre 1848 befand er sich in seinem 51zigsten Lebensjahr, hatte zusammen mit seiner Frau Ottilia 7 Kinder, darunter Gustav Weißheimer, der zu den maßgeblichen Gründungsmitgliedern der TGO zählte und der später den Leckzapfen erbauen ließ und Wendelin Weißheimer, der sein Leben als Komponist der Musik widmete.
Johann Weißheimers Interessen galten der Politik und der Geschichte.
(BILD: Steinmühle um 1850)
Er betrieb in Osthofen in die Steinmühle besaß ein eigenes Gut von über 350 Morgen mit eigener Bäcker und Destille. Die Hessische Zeitung beschreibt ihn als einen der einflussreichsten und vermögendsten Gutsbesitzer der ganzen Rheinprovinz. Er hatte gute Gene und überstand manche lebensgefährliche Krankheit. Er sollte in seinem langen Leben sieben Generationen seiner Familie erleben. Seine UrUr-Enkelin Irmgard May-Weißheimer lebte noch heute in der Steinmühle (BILD: Steinmühle heute) und wird am 28.5. 100 Jahre alt.
Seine Tagebücher weisen ihn als einen vielseitig interessierten und begabten Mann aus. Er war um die Mitte des 19. Jahrhunderts der am höchsten besteuerte Gutsbesitzer in Rheinhessens.
Somit ist Weißheimer zweifellos jener selbstbewussten, innovativen und innerhalb der Dorfgesellschaft exponierten Oberschicht zugehörig, die der Autor der 2016 erschienen großen Rheinhessen-Monographie, Gunter Mahlerwein, prägnat als die „Herren im Dorf“ bezeichnet hat.
Vorstellung der Quelle und der Edition
(BILD: EINBAND TAGEBUCH)
Johann Weißheimers Tagebücher sind nach gegenwärtigem Forschungsstand eine einzigartige und außergewöhnlich reichhaltige Quelle für die rheinhessische Geschichte während des 19. Jahrhunderts.
Der Umstand, dass die zentralbehördliche Überlieferung in Darmstadt während des 2. Weltkrieges vernichtet wurde, machen Weißheimers mehr als 1300 Seiten umfassende Aufzeichnungen so wertvoll, dokumentieren sie doch u.a. seinen politischen Werdegang, seine Einschätzung der politischen Lage, sein Wirken in Osthofen und Umgebung über einen Zeitraum ca. 8 Jahrzehnten.
(BILD: Wortwolke mit den Themen)
Sie geben einen Einblick in die konfessionellen, politischen und wirtschaftlichen Wandlungen ihrer Zeit und bieten die Möglichkeit zahlreiche Themenfelder der historischen Forschung zu konkretisieren und der ganz persönlichen Perspektive Weißheimers gegenüberzustellen.
Das Riesenprojekt der Edition (Bild: Original-Tagebuchseiten) konnte im Rheinhessen-Jubiläumsjahr mit der Unterstützung der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt, des Stadtarchivs Worms, der Stadt Osthofen, des Kulturnetzwerks Osthofen und von Frau Irmgard May-Weißheimer realisiert werden.
Die Edition der Tagebücher umfasst neben einer kommentierten Transkription eine historische Einordnung der Quelle sowie Inhaltsverzeichnisse, Orts-, Personen- und Sachregister sowie mehrere Stammbäume und Ahnentafeln, die den Zugang für die wissenschaftliche Forschung enorm erleichtern.
(BILD: Originalseite mit Sütterlinschrift)
Was eine solche Edition besonders spannend macht, ist der Umstand, dass sie einem so manches Rätsel aufgibt. So konnte zum Beispiel in Bezug auf die Revolution von 1848/49 u.a. anhand des Papiers, des Schriftbildes und einer veränderten Rechtschreibung nachweisbar, dass ein Großteil der Seiten mit größerem zeitlichem Abstand verfasst wurde und den übrigen Tagebuchseiten nachträglich hinzugefügt worden waren.
Über die Gründe hierfür, kann aktuell nur spekuliert werden. Wollte Weißheimer sich seiner Rolle in der Revolution nachträglich selbst versichern oder sein Andenken für seine Nachkommenschaft ins rechte Licht rücken? Oder erkannte er erst nachträglich die Bedeutung der miterlebten Ereignisse und korrigierte sie deshalb möglicherweise nachträglich? Die vollständige Auswertung der Tagebücher steht noch aus, so dass diese Frage heute noch offen bleiben muss.
DIE DORFGESELLSCHAFT UND DIE MÄRZREVOLUTION 1848
Um zu verstehen, was in Deutschland und in Osthofen 1848 vorging, muss man sich zunächst die Ereignisse in Frankreich vergegenwärtigen.
(BILD: Sozialrevolution in Paris vor dem Rathaus (hotel du ville)
(BILD: Karikatur: Verteibung des Bürgerkönigs Louis Philipp.
In einer Welt ohne Fernsehen, Radio, twitter und facebook, ohne email und whatsapp, TikTok sind es vor allem die Zeitungen, die Ereignisse der Februar-Revolution in Frankreich im Februar 1848 nach Deutschland und bis nach Osthofen tragen.
„Die Revolution und die Flucht des Königs Louis Philipp […] brachten eine ungemeine Aufregung hervor“, notiert Weißheimer am 27.2.1848 in seinem Tagebuch. Jeden Abend las ich die sehr interessanten Zeitungen[…], sprach unverholen meine große Freude über diese politische Bewegung, über das gemeinsame Streben des deutschen Volkes nach Einheit und Freiheit aus.“ Wie überall“, so wurden auch hier [in Osthofen] Zusammenkünfte gehalten, die bedeutenden Bürger des Kantons kamen hier zusammen und beschlossen, als Deputation nach Darmstadt zu gehen, sich an der allgemeinen Bewegung zu betheiligen und an den Großherzog gerechte Forderungen zu stellen.“
Johann Weißheimer reist, weil kränklich am 5. Märtz nach Darmstadt und berichtet.
Durch diesen Beschluss fungierten also die „bedeutenden Bürger“ als Überbringer jener später so genannten „Märzforderungen“, die in vielen Staaten des Deutschen Bundes Anfang März an die Fürsten gestellt wurden.
Unter dem Eindruck der Ereignisse im revolutionären Frankreich und in Baden gaben zahlreiche Fürsten den Forderungen nach und machten weitere Zusagen. So auch der Hessische Großherzog, der am 6. März 1848 eine Proklamation abdrucken ließ.
BILD: TAGEBUCHTEXT / Heinrich von Gagern plus Fortsetzung
„In Darmstadt fanden wir alles in Bewegung, die größte Aufregung: [wir] erfuhren, der Erbgroßherzog sei eben von München aus zurückgekommen. Abends waren wir im Darmstädter Hof, jemand brachte die Nachricht, der Großherzog habe den Erbgroßherzog zum Mitregeten angenommen und dieser den Abgeordneten Heinrich von Gagern als Minister ernannt. „Auf diese Nachricht erfolgte ein außerordentlicher Jubel in dem dicht angefüllten Saale.
(BILD: Proklamation des Großherzogs)
„Am folgenden Tage, den 6ten Märtz, fanden sich sehr zahlreiche Deputationen aus allen Gegenden des Großherzogtums ein, die breiten Straßen standen Kopf an Kopf, da erschien die berühmte Proklamation , unterzeichnet vom Erbgroßherzog und dem neuen Minister Heinrich von Gagern. Der Jubel war gränzenlos, die Zufriedenheit über die gemachten Zusagen allgemein.“
Wichtige Punkte der Proklamation waren u.a.:
Wie erreicht die Revolution Osthofen?
Weißheimer, der in Darmstadt zusammen mit zahlreichen anderen Vertretern des rheinhessischen Bürgertums zugegen war als die Proklamation des Großherzogs bekannt gegeben und verteilt wurde, brachte die Proklamation noch am selben Tag über Worms nach Osthofen:
„[Ich] brachte die erste Nachricht nach Worms, allwo ich sie in der Straße vielen um mich Versammelten vorlas; (BILD:Schwanen) gieng mit der Post nach Osthofen, stieg am Schwanen ab, fand im Hause daselbst Bürger versammelt, die mit grosser Aufmerksamkeit und Freude meine Erzählungen und die Mittheilung der Proklamation vernahmen.“
Die Nachrichten über die Gewährung der Märzforderungen war nun bis nach Osthofen gedrungen. Doch was nun? Wie würde die Osthofener auf diese Nachricht reagieren?
Ohne Weißheimers Tagebuch wüssten wir wohl kaum etwas darüber.
„Andererseits aber wurde mir erzählt, daß heute die hiesigen Proletarier die Wohnungen einiger mißliebiger Beamten hatten stürmen wollen, namentlich die des Steuercommissars; nur der Umstand, daß dessen Wohnung mein Eigenthum sei, habe sie zurückgehalten. Ich eilte schnell nach Hause, meine Gattin, die mich mit Ungeduld erwartet hatte, bestättigte mir alles.
Ich saß noch bei meiner Familie, als man vor dem Hofthore einen großen Lärm von zusammengelaufenen Menschen vernahm, unser aller Gedanken war, es würden Proletarier sein, welche nichts Gutes beabsichtigten; ich verweigerte die Oeffnung des Thores, war aber angenehm überrascht, als ich vernahm, daß es der Singverein sei, der mir ein Ständchen bringen wolle. Nachdem dieses beendigt, sprach ich einige Worte zu der Versammlung, erklärte ihnen kurz den Begriff der wahren Freiheit, ließ diese und den Singverein hochleben. – Später erfuhr ich, daß mehrere Häuser beleuchtet waren, daß viele Menschen beim Gemeindehauß versammelt gewesen, der Bürgermeister wurde aufgefordert vorzulesen und zu erklären, um was es sich handele, er aber verweigerte dieses Ansuchen.
Dass in dieser Passage von „großer Aufmerksamkeit“ und „Freude“ berichtet wird und sich die sensationelle Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, Bürgermeister Friedrich Knierim sich aber weigert, die Proklamation zu erklären, lässt tief blicken.
Am Beispiel Osthofen lässt sich ein bereites politisches Interesse der Dorfgesellschaft nachweisen, dabei unterscheidet Weißheimer Proletarier, den Mittelstand und die „Besitzenden“ oder „Aristokraten“.
a) Die Proletarier
Für die ärmeren Bevölkerungsschichten war mit der Revolution offenbar die Hoffnung verbunden, ihre persönliche soziale und wirtschaftliche Lage zu verbessern. Einen Wortführer überliefert Weißheimer nicht, wohl aber Gerüchte über geplante Übergriffe der Proletarier auf das Privateigentum missliebiger Beamter sowie deren Zusammenkünfte in Wirtshäusern, bei denen ihr große Hoffnung, die „bevorstehende Theilung der Güter“, besprochen wurde. Weißheimer versieht dieses, aus seiner Sicht wahrscheinlich als Horrorszenario empfundene Anliegen, mit einem einzigen in Klammern gesetzten Wort: „Communismus“.
Tatsächlich haben offenbar die anderen vermögenden Gutsbesitzer – angesichts sozialrevolutionärer Forderungen – Angst um Geld, Gut und Gesundheit und erscheinen aus „Furcht vor Misshandlungen“ nicht bei den ca. zwei Wochen später stattfindenden, ersten Volksversammlungen.
b) Der Mittelstand
Erstaunlicherweise sind es in der Wahrnehmung Weißheimers nicht die Angehörigen der ärmsten Bevölkerungsschichten, die in die offene Opposition zu den vermögenden Bürger suchen, sondern der Mittelstand, zu dem neben Weißheimers Vetter Schott auch die Anhänger der Familie Blass in Osthofen gehörten.
„Die Besitzenden“, „die Notablen“, „die Aristokraten“, die „Geldsäcke“, „die Geldmänner“, „die Reichen“ – all diese von Personen des Mittelstandes überlieferten Begrifflichkeiten zeigen eine deutliche soziale Differenzierung im Vergleich zum Mittelstand, der offenkundig mit den Ideen der Revolution relativ wenig anfangen konnte oder wollte und wie Weißheimer überliefert;
„Zu dieser Aufregung kam noch eine ganz unerwartete, von einer anderen Seite, gegen die Revolution und gegen alles Neuere, besonders gegen die versprochene Volksbewaffnung waren. „All dieses Unheil“, sagten sie in der größten Erbitterung, „geht nur von den Reichen aus, diese haben alles nach ihrem Vortheil so geleitet.“ […] „Überhaupt legten diese Leute einen tiefen Haß gegen die vermögenden Bürger an den Tag, weit mehr als die Ärmeren. Ich war nicht wenig erstaunt über solche Gesinnungen und erblickte darin einen lange verhaltenen Ausbruch des Neides.“
c) Die Besitzenden
Ein differenzierteres Bild erscheint in Weißheimers Tagebücher von den exponierteren Vertretern der bäuerlichen Oberschicht, den „Reichen“. Zu ihnen zählten neben Johann Weißheimer II. zwei seiner erbittertsten Feinde und Neider: der mit ihm verschwägerte Schwanenwirt Georg Friedrich Best und der amtierende Bürgermeister Friedrich Knierim I.
„[Ich wollte] Bürgermeister Knierim und Friedrich Best [da]zu bewegen, einen Verein oder öftere Zusammenkünfte zu erwirken, um die Bürger, besonders die Proletarier über die politischen Ereignisse aufzuklären und zu bilden und dadurch beide Classen zu beruhigen; ich wollte mich mit den bedeutendsten hiesigen Bürgern um die Neugestaltung unseres politischen Lebens zusam[m]en schliessen um die Kraft des Volkes nach einer besseren Richtung zu bringen und dieselbe dadurch zu verstärken und zu einigen.“
„[Bürgermeister] Knierim aber war nicht zu bewegen auf meinen Vorschlag einzugehen, theils weil er feige, voller Angst und Furcht war vor den persönlichen Drohungen der Proletarier, theils um, nach seiner persönlichen schlauen und hinterlistigen Natur, abzuwarten, wie er diese Vorfälle am Besten zu seinem Vortheile ausbeuten könne: [Der Schwanenwirt Friedrich] Best war auch hier nur sein Nachbeter.“ (Tagebuch III, S. 152f.)
Hier zeigt sich, welch großen Stellenwert Weißheimer den Gedenken der „Einigkeit“ und der „Kraft des Volkes“ beimisst, um Deutschlands Einheit und die Verabschiedung einer „freisinnigen Verfassung“ zu erreichen. Verbunden mit diesen Zielen ist die Hoffnung, einen Handelsstaat zu etablieren, um so für allgemeinen Wohlstand führen würde.
Als geeignete politische Bühne um den Bürgerinnen und Bürgern die eigenen Vorstellungen näher zu bringen, erscheinen Weißheimer und anderen lokalen Protagonisten die Volksversammlung, die mit der Gewährung der Märzforderungen nun legalisiert worden waren.
Und so appelliert er mehrmals an den Schwanenwirt und den Bürgermeister mit ihm die Leitung der Volksversammlung zu übernehmen, damit „Unfug“ werden könnte.
Wahrscheinlich ist mit dem Begriff „Unfug“ eine Radikalisierung der Revolution gemeint, um mit Gewalt politisch radikalere Ziele wie die Republik oder gar den Sozialismus durchzusetzen, die Weißheimer in diesem Moment als nicht zeitgemäß erscheinen. Obwohl Knierim und Best sicherlich die Befürchtungen Weißheimers in Bezug auf eine mögliche Radikalisierung der Revolution geteilt haben, verfolgten sie in dieser frühen Phase der Revolution andere Ziele, sodass Weißheimer konsterniert feststellen muss:
„Meine Vorschläge wurden nicht angenommen, denn diese Männer hatten ihre eigenen Sonderinteressen wie immer, sie schützten Furcht vor Mißhandlungen vor, getrauten sich also nicht zu erscheinen.“
Diese Sonderinteressen mögen auch mit den mittlerweile mehr als 25 Jahren andauernde Querelen zwischen Johann Weißheimer II. und dem Familienclans seiner Schwiegereltern zusammenhängen. Ihren Ursprung haben diese Streitigkeiten neben Missgunst und Neid zu einem guten Teil in den 1848 immer noch spürbaren konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Lutheranern und den Anhängern Calvin und Zwinglis, den sogenannten „Reformierten“, die zwar seit 1822 offiziell vereinigt, defacto aber alte Grabenkämpfe weiter ausfechten.
Die noch erhaltenen Flugblätter (BILD: Zwischenfazit) aus den Tagen der Märzrevolution verdeutlichen ebenso wie mehrere Tagebucheinträge Weißheimers, dass sich in der Revolution lokalpolitische, konfessionelle und nationalpolitische Themen überschneiden.
Auffällig ist also, dass es insbesondere im bürgerlichen Lager der Besitzenden offenbar keine einheitliche Linie in Osthofen gab.
Weißheimer stand innerhalb dieser Gruppe mit seinen Ideen und Vorstellungen oftmals links der Liberalen und näherte sich während der Sommer- und Herbstmonate in dem Maß, wie das Parlament aus seiner Wahrnehmung heraus Zugeständnisse an die Fürsten machte (BILD; Schlafender Michel) und schloss sich mehr und mehr Jaocb Best IV. und den Demokraten an, also jener Gruppierung, denen er zu Beginn der Revolution 1848 noch kritisch gegenüberstand.
MEINUNGSBILDUNG UND KOMMUNIKATION
Bezüglich der Instrumente zur politischen Meinungsbildung innerhalb des Dorfes lässt sich in Bezug auf Osthofen eine klare Entwicklung ablesen:
In den ersten Tagen der Revolution wurden die neuen politischen Ideen zunächst bei Zusammenkünften in den örtlichen Wirtshäusern, wie hier im Schwanen, diskutiert, bevor sie in organisierten Volksversammlungen öffentlichen propagiert wurden. Während der Sommermonate fand man in Osthofen außerdem in neu gegründeten Vereinen zusätzliche Gelegenheiten zum Austausch und der Einflussnahme
Die erste Volksversammlung fand 26. März 1848 außerhalb der Fleckenmauer auf der Bleiche statt. Zeit und Ort wurden über Flugblätter angekündigt. Die Redner bestiegen einen Brunnen, um von den Besuchern besser gesehen und besser verstanden zu werden.
Aufgefordert die Proklamation des Großherzogs zu erklären, nimmt Weißheimer die Gelegenheit wahr und überliefert dadurch den weiteren Verlauf der ersten Volksversammlung:
„Ich bestieg den Brunnensarg, las und erklärte die Proklamation vom 6ten Märtz Punkt vor Punkt, besonders aber den von der Volksbewaffnung, von dem die Mittelklasse nichts wissen wollte, sagte, daß nur durch diese die errungene Freiheit geschützt und die Kriege vermieden würden; erzählte ihnen kurz die Veranlassungen der stattgefundenen Revolution, welcher glücklichen Zukunft wir entgegen gehen, nur müßten die Bürger einig sein und sich durch niemand beirren lassen u.s.w. Mit vieler Zufriedenheit wurden meine Worte angehört, mehrere erklärten, daß sie erst jezt wisseten, um was es sich handele.
Einmal mehr wird in dieser Passage die zentrale Rolle Führungspersönlichkeiten wie Weißheimer deutlich, der es versteht, nicht nur die Ursachen der Revolution und die aus seiner Sicht wichtigsten Punkte der Märzforderungen zu erklären, sondern auch für ein gemeinsames Handeln der Bürger wirbt.
Gerade die immer wieder von Weißheimer verlangte Einigkeit gelang weder im Kleinen und noch weniger im Großen. Und so verwundert es nicht, dass die Volksversammlungen und politischen Kundgebungen nicht immer so reibungslos verlaufen „ruhig“ auseinandergingen.
Dies zeigt das folgende Beispiel aus dem Höhepunkt des Wahlkampfes vom 1. Mai 1848, als Jacob Best IV. offenbar für die republikanisch gesinnten demokratischen Kandidaten, für der Wahl der Wahlmänner wirbt
„Jakob Best IV. hielt eben von einem Tische herab eine Rede wegen der auf den folgenden Tag fixirten Wahl der Wahlmänner. Nur die Social-Republikaner gaben ihm Beifall, den übrigen Bürgern behagte seine Rede nicht. Ich ging vorüber, ehe er geschlossen. Bald darauf rannten Jakob Best V., Sohn des Schwanenwirtes und einige andere nach dem Tische, trieben den Redner herab, es entstand ein Geschrei und Tumult wie er noch selten hier gewesen, die ganze Menge gerieth in Bewegung für und gegen, unter Stößen und Schlägen gerieth die Menge aus einer Straße in die andere, bis sie sich endlich allmälig zerstreute.“
Der Kern der vielfach hitzig geführten Debatte bestand in der Frage, ob Deutschland künftig eine Republik oder eine konstitutionelle Monarchie sein sollte. Dass die Situation ausgerechnet einen Tag vor der Wahl der Wahlmänner eskalierte, verdeutlicht eindringlich einen der wichtigsten Aspekte der Revolution: die Übertragung von Lösungsansetzen der Kernfragen aus der Revolution in das Parlament.
Die oben bereits zitierten Beispiele verdeutlichen zwei Dinge im besonderen Maße:
Erstens: Die Herausbildung einer breiten interessierten Öffentlichkeit, die unter anderen aufgrund von Zeitungsmeldungen, Flugschriften und Volksversammlungen zunehmend für das politische Geschehen sensibilisiert wird.
Zweitens: Die große Spaltung im bürgerlichen Lager in Liberale sowie einen republikanischen und einen gemäßigten Flügel der Demokraten.
In Osthofen hatte sich ganz offenkundig der gemäßigte Flügel der Demokraten durchgesetzt, denn die radikaleren Sozialrepublikaner erreichten bei der Wahl der Wahlmänner nicht die nötigen Stimmen. Genau dieser Richtungswechsel bescherte dem Demokratischen Verein im Sommer einen großen Mitgliederzuwachs.
Der Demokratsiche Verein, der Bürgerverein und die TGO. Was Deutschland im Großen…
Neben dem Demokratischen Verein, der von Jacob Best IV. gestiftet wurde und dem er als Präsident vorsaß, erwähnt Weißheimer die Gründung eines weiteren Singvereins unter der Leitung des deutschkatholischen Predigers Leopold Henneberg und die Gründung der bis heute bestehenden Turngemeinde Osthofen.
Sie wurde Männern ins Leben gerufen, die davon überzeugt waren, dass es sich lohnt für Einigkeit und Recht und Freiheit zu kämpfen.
Die TGO ist kein Verein unter vielen, es ein Verein mit einer wechselvollen Geschichte, der von jungen Männern ins Leben gerufen wurde, die davon überzeugt waren, dass es sich lohnt für Einigkeit und Recht und Freiheit zu kämpfen.
Maßgeblich zur Vereinsgründung der Turngemeinde trugen dazu der damals 44-jährige Notar August Baltz, der 24-jährige Louis Kaibel aus dem Schlichterhof und dessen 17-jähriger Schwager Gustav Weißheimer, der dritte Sohn von Johann Weißheimer aus der Steinmühle bei.
Gustav Weißheimer, der dem ein oder anderen als Erbauer des Leckzapfens bekannt sein könnte, wurde der erste Turnwart der Turngemeinde, leitete die Turnübungen und organisierte die so genannten Turnerfahrten.
Er hatte gut einen Monat zuvor von seinem Vater aus erster Hand erfahren, wie sich auch im Großherzogtum Hessen der Monarch dem Druck der Bevölkerung gebeugt hatte und den Bürgern ihre späterhin so berühmt gewordenen Märzforderungen gewährte.
Und so verwundert es vor diesem politischem Hintergrund nicht, dass es in der ersten Satzung der TGO vom 9.4.1848 in Paragraph 1 heißt:
„Die Turngemeinde besteht aus Jünglingen und Männern, welche durch gemeinschaftliche Turnübungen [die] Gesundheit und Stärkung des Körpers und Geistes, hierin Beförderung des Gemeinsinns zu erreichen und durch gemeinschaftliches Zusammenwirken den deutschen Volkssinn zu heben zu suchen.“
Das Bindeglied, oder sagen wir besser das Fundament des Vereins, waren also eminent politische Ideen. Der junge Verein positionierte sich in der Frage, ob der deutsche Nationalstaat künftig als eine konstitutionelle Monarchie oder als eine Republik ausgestaltet werden sollte, eindeutig und schloss sich dem Demokratischen Turnerbund an.
Die Mitglieder der Turngemeinde wurden mit dem Eintritt, qua Satzung dazu verpflichtet, sich nach Möglichkeit an den Vereinstätigkeiten zu beteiligen, um so zur Erreichung der Vereinszwecke beizutragen und alles zu lassen, was sich im Inneren und Äußeren nachteilig auf den Verein auswirken könnte. Vor diesem politischen Hintergrund ist auch der Tagebucheintrag von Gustav Weißheimers Vater, Johann Weißheimer II., zu verstehen, der über das Jahr 1848 schreibt:
„Diesen ganzen Sommer hindurch war hier in Osthofen ein sehr reges Leben […], der Notar Baltz rief einen Turnverein ins Leben, dem sich ein großer Teil der jungen Leute beitraten, auch ältere Bürger schlossen sich an und hielten Waffenübungen; selbst den Schwanenwirth Friedrich Best sah ich schweißtriefend die Flinte tragen und die Manoevers mitmachen, jeden Sonntag zogen sie mit ihrer Trommel unter der Leitung ihres Hauptmanns, dem Friedensgerichtsschreibers Keller, aus.“
Als Treffpunkt für den Vorstand diente offenbar das heute noch bestehende Gartenhaus gleich neben uns im Garten des Schwanen, von dem es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einmal eine Kegelbahn gegeben hatte.
Die Turnbewegung war jedoch nicht auf Osthofen beschränkt, sondern ist als ein gesamtdeutsches Phänomen zu betrachten, dessen Ideen maßgeblich durch Friedrich Ludwig Jahn geprägt wurden, dessen Leitgedanken „Deutschlands Einheit war der Traum meines Lebens“ nebst allen Wappen der damals zum deutschen Kaiserreich gehörenden Gebiete in dem nach ihm benannten „Jahn-Saal“ in der Carl-Schill-Turnhalle zu sehen waren.
Ein gesellschaftliches Großereignis war die Fahnenweihe der Turngemeinde am 27. August 1848.
Es ist bemerkenswert, dass es die Mädchen waren, die obgleich noch gar nicht zum Verein zugelassen, den Turnern eine Fahne verehrten. Vor wenigen Wochen durfte ich mir gemeinsam mit Herrn Reuter diese Fahne einmal näher betrachten.
Es ist nicht die Fahne der TGO, wie wir sie heute kennen. Sie trägt die heute untrennbar mit der demokratischen Tradition in Deutschland verwobenen Farben der Revolution: schwarz, rot – gold. Der Schriftzug „Osthofer Turngemeinde 1848“ wölbt sich über ein mit goldenem Eichenlaub verziertes Turnerkreuz, dass in Form von vier großen Fs zusammensetzt ist und des Leitspruchs Friedrich Ludwig Jahns „Frisch-fromm-fröhlich-frei“ verkörpert.
Vor diesem Hintergrund sind die frühen Aktivitäten der TGO, die in keinen Protokollbüchern stehen, sondern nur in den Tagebüchern von Johann Weißheimers Tagebüchern überliefert sind zu verstehen.
Die TGO scheint also durch die mit Trommelschlägen lautstark demonstrierten sonntäglichen Waffenübungen, Paraden und Manöver die Erwartungen und das Bedürfnis der meisten Bürger nach öffentlicher Demonstration von Stärke am ehesten befriedigt zu haben, sodass sogar zu einer Vereinigung des Demokratischen Vereins und des Turnvereins kommt.
Begeistert schreibt Weißheimer:
„Diesen ganzen Sommer hindurch war hier in Osthofen ein sehr reges Leben […] Nie werde ich vergessen, mit welcher Spannung ich täglich die Zeitung erwartet und gelesen, wie sehr mich die stenographischen Berichte des Parlaments interessirten und [ich] die Größe des Präsidenten Gagern bewunderte […].“
Nach dem Sommer mehren sich Anzeichen der Reaktion, die Stimmung in Osthofen schlägt ins Gegenteil um und auch Weißheimer – zuvor von den Demokraten zum Bezirksrat gewählt – beurteilt die Situation grundlegend anders. Im Dezember notiert er:
Die Demokraten aber hielten nunmehr fest an den Volksrechten, dies war der Weg, den alle Bürger hätten betretten und den Demokraten sich hätten anschließen sollen, um die begonnene Reaktion zurückzudrängen. Leider aber war dies nicht [der Fall], man suchte das Volk zu spalten, wozu der Wormser Bürgerverein bei uns das heillose Beispiel gegeben, er war von den Liberalen und den Anhängern Gagerns gegründet, um den Demokraten entgegen zu wirken und obgleich diese an Socialismus nicht mehr dachten, so waren die meisten Besitzenden danach so sehr verblendet, daß sie dem Bürgervereinen beitratten, verstärkten die Macht der Regierungen zur Unterdrückung ihrer eigenen Rechte.
So schloß das denkwürdige Jahr 1848, alle Hoffnungen schienen vernichtet; an Neujahr sagte ich voraus, daß das Parlament bald aufhören und nach Jahresfrist alle unsere Errungenschaften werden verloren sein.
Hier in Osthofen war beinahe jeder Tag ein anderer Auftritt, „was Deutschland im Grossen“, sagte ich öfter, „das ist Osthofen im Kleinen, hier haben wir unsere Radikalen, Indifferenten, Gemäßigte, Bürraukraten, Stabilen, Rechtgläubige, kurz der Fortschritt, Rückschritt, das Althergebrachte, so wie diese im Vaterland sich bewegten, so auch hier im kleinen Maßstabe“.
Weißheimers Beurteilung der politischen Lage in Deutschland war leider richtig.
Dass sich die Turner der demokratischen Sache verpflichtet fühlten, waren nicht nur Lippenbekenntnisse. Denn als 1849, als bereits absehbar war, dass die reaktionären Kräfte, die Revolution niederringen würden, kam der Aufruf an die Turner bei der so genannten Reichsverfassungskampagne die mit vielen Mühen im Frankfurter Nationalparlament verabschiedete Verfassung zu verteidigen.
Zu dieser Zeit wurde nämlich die so genannte Reichsverfassungskampagne ins Leben gerufen und die Turner dazu aufgefordert, sich als aktive Revolutionäre gegen die Staatsmacht aufzulehnen. Mit anderen Worten: Leib und Leben für ihre politischen Ideale zu riskieren!
Der damals krank zu Bette liegende Johann Weißheimer schreibt dazu in seinem Tagebuch
Der König von Preussen hatte die von der Gagernsche Parthei im Parlament zugedach- te und angebotene Kaiserwürde, wie leicht vorauszusehen, abgelehnt. 29 deutsche Fürsten, darunter auch unser Großherzog, hatten die deutsche Reichsverfassung angenommen, es war aber augenscheinlich, daß es nicht so ernstlich gemeint sei. Der König von Baiern mit den anderen grösseren Fürsten aber weigerten sich sie anzunehmen, darauf erfolgte der Aufstand der Pfalz, alles regte sich und gerieth in Bewegung, die Bürger vereine machten Addressen , auch der Hiesige schikte zwei Addressen an den Großherzog und an das Parlament, die aber nur von den Mitgliedern des Bürgervereins unterzeichnet waren, sie machten sich darin verbindlich ‚Gut und Blut aufzuopfern, um die Reichsverfassung durchzuführen.’
Es wurden auch freiwillige Beiträge gesammelt, um den Gemeinden Waffen anzuschaffen, dazu zeichnete ich hundert Gulden.
Am 10ten Mai, nachdem ich etwas auf der Besserung gewesen, hatte mein Gustav die ganze Nacht hindurch bei mir gewacht, mir war so unruhig, daß ich nicht einen Augenblick schlafen konnte. Um drei Uhr morgens sagte ich zu Gustav, er möge sich jezt niederlegen, wenn ich Arzenei nehmen müsse, werde wohl eine seiner Schwestern aufgestanden sein, die dann bei mir bleiben könne. Er ging weg, ich schlief sogleich ein.
Nach einer halben Stunde hörte man Leute vor dem Tor, der Aufruf an alle Turner war gekommen, auf der Stelle nach der Pfalz zu gehen. Gustav raffte sich auf und zog mit ihnen.“
So wie der junge Gustav Weißheimer und sein Bruder Jean waren noch viele andere junge Männer bereit, in der so genannten die Reichsverfassungskampagne, die errungenen Recht mit ihrem Leben zu verteidigen. Denn jetzt war der Moment gekommen, bei dem es ernst wurde, der Moment, in dem man dachte, es käme zu einem umfassenden Volksaufstand, der die Fürsten mit Gewalt dazu zwingen würde, ihre dem Volk vor einem Jahr gegebenen Versprechungen einzulösen. Letztlich ist der Aufstand ausgeblieben, die Revolution scheiterte.
Dass Gustav Weißheimer und seine Turnerfreude glücklicherweise die Gefechte bei Landau überlebten und wohlbehalten nach Osthofen zurückkehrten, war ein Glück für den Fortbestand der Idee der Turngemeinde, die 1861 von Gustav Weißheimer und dessen Freunden Louis Kaibel, Christian Melolth, Hermann Laist und Fritz Wallrapp, nachdem sie sich zwischen 1850 bis 1861 im Geheimen zum damals illegalen Turnen im Gasthaus „Zur Luft“, im Schlichterhof und wie betont wird, „sicherheitshalber“, in der „Brille“ treffen mussten.
So wie die Turner ihr Gedankengut weiter verfolgten, so war auch der Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit auch in der Bevölkerung nicht mehr auszulöschen.
Überblickt man die Geschichte, so lässt sich am Ende feststellen, dass die Revolution gescheitert, jedoch ihre grundsätzlichen Ideen im Zusammenhang mit der politischen Kultur in Deutschland überlebt haben.
Gerade in Zeiten, in denen oftmals antidemokratische Töne zu hören sind, finde ich es wichtig, dass wir uns der eigenen Geschichte bewusst werden. Denn, was wir angesichts niedriger Wahlbeteiligungen offenbar als selbstverständlich ansehen, ist es eben nicht. Das wird an der Revolution von 1848/49 deutlich. Sie trug dazu bei, dass die Menschen Politik als etwas wahrnahmen, dass sie selbst mitgestalten können und für das es sich lohnt einzustehen und zu kämpfen.
Zum Schluss darf ich Sie auf die Buchvorstellung am 14.7. hier im Bürgersaal hinweisen. Brigitte Kazenwadel und ich stellen dann die völlig überarbeite Neuauflage des Buches: Osthofen. Gestern- heute – morgen vor, das ab dann erhältlich sein wird.
„Wenn die Toten schweigen, beginnt immer wieder alles von vorn“.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
dieses Zitat des französischen Philosophen Gabriel Marcel ist ein Aufruf gegen das Vergessen und gegen die Passivität in einer Welt, in der Krieg, Terror und Gewalt vielerorts zum Alltag gehören und uns durch die modernen Medien Tag für Tag erreichen.
Um den Toten im übertragenen Sinne Marcels eine Stimme zu geben, eine Stimme, die auch durch die Berichterstattung in den Medien verbreitet wird, darum haben wir uns hier auf dem Bergfriedhof versammelt.
Wir gedenken heute des unermesslichen Leids, das die Kriege des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts über die Menschen gebracht haben.
Gerade weil wir es tagtäglich in den Medien sehen, drohen wir abzustumpfen, weil das Leid der Menschen weit weg zu sein scheint. Zwar merken wir, dass alles teurer wird, dass wir vor immer größeren Herausforderungen stehen und doch sollten wir uns an einem Tag wie heute bewusst machen, was mit dem Begriff „Krieg“ verbunden ist: Verfolgung, Vertreibung, Vergewaltigung, Traumatisierung, Entwurzelung, Ohnmacht und Zerstörung. Gedenken wir also sowohl den Opfern als auch den Angehörigen, die als Geflüchtete unter uns leben und die ihr Leid oftmals still und unbewältigt mit sich herumschleppen.
Die Idee des gemeinsamen Gedenkens wurde erstmals 1919 geboren. Sie entstand durch die unmittelbaren Eindrücke aus dem Ersten Weltkrieg, dessen wohl blutigste Schlacht, die Schlacht an der Somme mehr als eine halbe Millionen Menschen das Leben kostete, über 100.000 starben an einem einzigen Sommertag.
Der erste Weltkrieg, den Historiker als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ charakterisieren, stellt sowohl im militärischen als auch im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich eine historische Zäsur dar.
Es war der erste totale Krieg, der alle möglichen materiellen und menschlichen Ressourcen mobilisierte, der durch neue Techniken wie den Panzer, Giftgas, Flugzeuge und schwere Geschütze den Krieg und das Morden zu einer mehr oder weniger anonymen Angelegenheit werden ließ.
Dieser Krieg, der das alte Europa untergehen ließ, bereitete den Nährboden für den Aufstieg der Nationalsozialisten und schließlich für den zweiten Weltkrieg, der nach den aktuellsten Schätzungen bis zu 65 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.
Das Thema Krieg in Europa war bis vor noch nicht all zu langer Zeit etwas, das im kollektiven Bewusstsein glücklicherweise etwas Vergangenes war, etwas für den Geschichtsunterricht. Der Ost-West-Konflikt schien durch den Zusammenbruch der Sowjet-Union und eine Politik der wirtschaftlichen Annährung und Öffnung weitestgehend überwunden.
Seit nun beinahe 21 Monaten müssen wir durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erkennen, dass dem nicht so ist.
Denn immer wieder erreichen uns tagtäglich Bilder und Videos aus der Ukraine, von denen wir gehofft hatten, dass wir sie auf unserem Kontinent niemals wieder sehen würden: zerstörte Städte, zerstörte Landschaften, zerstörte Menschen, auseinandergerissene Familien u.v.m.
Der Krieg in der Ukraine, dessen Auswirkungen wir jeden Tag durch Preissteigerungen und vieles mehr zu spüren bekommen, macht uns schlagartig bewusst, wie zerbrechlich eine über Jahrzehnte durch wirtschaftliche Beziehungen gefestigte Friedensordnung sein kann.
Wir befinden uns tatsächlich, wie es unser Bundeskanzler Ende Februar 2022 formierte, an einer „Zeitenwende“, in der die Herausforderungen in einer immer komplexeren, globalisieren Welt nicht leichter werden.
Wenn der deutsche Verteidigungsminister vor wenigen Tagen die Kriegstüchtigkeit Deutschlands als Handlungsmaxime gefordert hat, sodass Deutschland zum „Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung Europas“ werde, dann lässt dies in alarmierender Deutlichkeit erkennen, in welch einer angespannten Situation wir uns befinden.
Zu diesem schrecklichen Krieg, der ganz Europa in Atem hält, erreichen uns nun auch noch seit dem 7. Oktober die furchtbaren Bilder aus Israel und dem Gazastreifen. Auch die Wurzeln dieses Kriegsschauplatzes, ja des ganzen Nahost-Konfliktes reichen zu einem Teil in zurück in den ersten Weltkrieg und liegen auch im Antisemitismus begründet, der im Nationalsozialismus und den dadurch eingeleiteten Holocaust nie gekannte Ausmaße annahm.
Das Leid, das wir in diesem Jahr im Nahen Osten erleben, gefährdet vielerorts den Zusammenhalt in der Gesellschaft, auch bei uns in Deutschland.
Um so wichtiger ist es mir, bei allen Problemen am heutigen Tage auch einmal an eine Erfolgsgeschichte zu erinnern, die unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte: Ich meine, die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, die mit dem Elysee-Vertrag vor 60 Jahren der Welt gezeigt hat, dass aus Feinden Partner und Freude werden können. Und auch wenn die Gemengelage eine gänzlich andere war, als im Nahost-Konflikt darf diese Einigung doch als leuchtendes Beispiel der Diplomatie hervorgehoben werden, das seit dem als Inspiration für den europäischen Einigungsprozess gilt.
Uns allen muss klar sein, dass wir ein geeintes Europa brauchen, um den Frieden und die Freiheit in unserem Land zu bewahren und dass man auf europäischer Ebene stärker zusammen- statt auseinanderzurücken muss, um die großen Fragen der Zeit zu lösen: anfangen von der Migration bis zum Klimaschutz.
Die Basis dafür bildet jedoch die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit und die beständige Erinnerung daran, dass die Demokratie unser wertvollstes Gut ist, dass es uns eben nicht egal sein darf, ob und wen wir im Kleinen wie im Großen wählen und dass an allen Fronten nur ein gemeinsamer Friedensprozess Früchte tragen- und für alle ein Gewinn sein wird.
Denn an vielen Stellen in der Welt leiden Menschen, weil die Politik sich nicht einigen kann, weil man aus wirtschaftlichen oder ideologischen Gründen offenbar gar nicht an einer Lösung interessiert ist.
Und so ist der heutige Volkstrauertag ein Aufruf, sich dafür einzusetzen, den Frieden zu bewahren und Konflikte auf diplomatischer Ebene zu lösen und eben nicht durch Terror, Krieg und Gewalt.
Und so hat der Volkstrauertag auch im Jahre 2023 nichts von seiner Aktualität verloren.
Gedenken wir also nun der Opfer von Krieg und Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart und rufen wir uns einmal mehr die Worte des Philosophen Karl Jaspers in Erinnerung, der einmal formulierte:
„Im Grunde bleiben Frieden und Freiheit immer ein Wagnis. Sie müssen täglich neu errungen werden.“
„Täglich neu“ – diese Botschaft, dieser Appell, den der Volkstrauertag an uns alle und insbesondere auch an die junge Generation richtet, heißt:
Ziehen wir aus dem Geschehenen die richtige Lehre, tun wir alles uns Mögliche, damit wir und unsere Kinder nie wieder einen Krieg erleben müssen. Setzen wir heute und hier mit dem Volkstrauertag ein Zeichen gegen das gleichgültige Akzeptieren der Gewalt in unserer Zeit und gegen das Vergessen der Vergangenheit.
Begreifen wir also den Volkstrauertag sowohl als einen Tag des Gedenkens und als großen Appell für den Frieden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrte Frau Naumann,
sehr geehrte Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter, liebe TGO-Familie,
wenn man wie heute die Freude hat, ein solches Jubiläum als Bürgermeister zu begleiten, so bleibt es nicht aus, einmal einen Blick in die Vergangenheit, in Gegenwart und Zukunft zu werfen. Denn nichts weniger spiegelt sich im Motto wider, das sich der Verein auf zum 175. Geburtstag die Fahne schreibt: Mit Tradition und Zukunft.
Schauen wir also auf die Tradition, die Anfänge der Turngemeinde im Jahr 1848. Das Jahr, in dem die Revolution nach Deutschland und auch nach Osthofen kam. Die Revolution, die, wenngleich letztlich an der Vielfalt ihrer Herausforderungen gescheitert, doch den Gedanken von Einigkeit und Recht und Freiheit, den Kernzielen der national-liberalen Bewegung im damaligen deutschen Bund unauslöschlich im Bewusstsein der Bevölkerung verankerte.
Maßgeblich zur Vereinsgründung der Turngemeinde trugen dazu der damals 44-jährige Notar August Baltz, der 24-jährige Louis Kaibel aus dem Schlichterhof und dessen 17-jähriger Schwager Gustav Weißheimer aus der Steinmühle bei. Gustav Weißheimer, der dem ein oder anderen als Erbauer des Leckzapfens bekannt sein könnte, wurde der erste Turnwart der Turngemeinde, leitete die Turnübungen und organisierte die so genannten Turnerfahrten.
Er hatte gut einen Monat zuvor von seinem Vater aus erster Hand erfahren, wie sich auch im Großherzogtum Hessen der Monarch dem Druck der Bevölkerung gebeugt hatte und den Bürgern ihre späterhin so berühmt gewordenen Märzforderungen gewährte.
Zu diesen Forderungen zählten die u.a. Gewährung politischer und bürgerlicher Freiheit, die Aufhebung der Zensur und die Pressefreiheit, die Vereidigung des Militärs auf die Verfassung und das Zulassen der Volksbewaffnung, sodass das Volk die Ideen eines künftigen geeinten Nationalstaates und die Bewahrung der bürgerlichen Rechte notfalls auch mit Gewalt verteidigen konnte. Mit der Zustimmung des Großherzogs zu den Märzforderungen war schließlich auch der Weg für die Gründung von Vereinen geebnet.
Und so verwundert es vor diesem politischem Hintergrund nicht, dass es in
der ersten Satzung der TGO vom 9.4.1848 in Paragraph 1 heißt:
„Die Turngemeinde besteht aus Jünglingen und Männern, welche durch gemeinschaftliche Turnübungen [die] Gesundheit und Stärkung des Körpers und Geistes, hierin Beförderung des Gemeinsinns zu erreichen und durch gemeinschaftliches Zusammenwirken den deutschen Volkssinn zu heben zu suchen.“
Das Bindeglied, oder sagen wir besser das Fundament des Vereins, waren also eminent politische Ideen. Der junge Verein positionierte sich in der Frage, ob der deutsche Nationalstaat künftig als eine konstitutionelle Monarchie oder als eine Republik ausgestaltet werden sollte, eindeutig und schloss sich dem Demokratischen Turnerbund an.
Die Mitglieder der Turngemeinde wurden mit dem Eintritt, qua Satzung dazu verpflichtet, sich nach Möglichkeit an den Vereintätigkeiten zu beteiligen, um so zur Erreichung der Vereinszwecke beizutragen und alles zu lassen, was sich im Inneren und Äußeren nachteilig auf den Verein auswirken könnte. Vor diesem politischen Hintergrund ist auch der Tagebucheintrag von Gustav Weißheimers Vater, Johann Weißheimer II., zu verstehen, der über das Jahr 1848 schreibt:
„Diesen ganzen Sommer hindurch war hier in Osthofen ein sehr reges Leben […], der Notar Baltz rief einen Turnverein ins Leben, dem sich ein großer Teil der jungen Leute beitraten, auch ältere Bürger schlossen sich an und hielten Waffenübungen; selbst den Schwanenwirth Friedrich Best sah ich schweißtriefend die Flinte tragen und die Manoevers mitmachen, jeden Sonntag zogen sie mit ihrer Trommel unter der Leitung ihres Hauptmanns, dem Friedensgerichtsschreibers Keller, aus. Als Treffpunkt für den Vorstand diente offenbar das heute noch bestehende Gartenhaus gleich neben uns im Garten des Schwanen, von dem es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einmal eine Kegelbahn gegeben hatte.
Die Turnbewegung war jedoch nicht auf Osthofen beschränkt, sondern ist als ein gesamtdeutsches Phänomen zu betrachten, dessen Ideen maßgeblich durch Friedrich Ludwig Jahn geprägt wurden, dessen Leitgedanken „Deutschlands Einheit war der Traum meines Lebens“ nebst allen Wappen der damals zum deutschen Kaiserreich gehörenden Gebiete in dem nach ihm benannten „Jahn-Saal“ in der Carl-Schill-Turnhalle zu sehen waren.
Ein gesellschaftliches Großereignis war die Fahnenweihe der Turngemeinde am 27. August 1848.
Es ist bemerkenswert, dass es die Mädchen waren, die obgleich noch gar nicht zum Verein zugelassen, den Turnern eine Fahne verehrten. Vor wenigen Wochen durfte ich mir gemeinsam mit Herrn Reuter diese Fahne einmal näher betrachten. Es ist nicht die Fahne der TGO, wie wir sie heute kennen, sondern sie trägt die heute untrennbar mit der demokratischen Tradition in Deutschland verwobenen Farben der Revolution: schwarz, rot – gold. Der Schriftzug „Osthofer Turngemeinde 1848“ wölbt sich über ein mit grünem grünen Eichenlaub verziertes Turnerkreuz, dass in Form von vier großen Fs zusammensetzt ist und des Leitspruchs Friedrich Ludwig Jahns „Frisch-fromm-fröhlich-frei“ verkörpert.
Und spiegelt die Fahne die Zeit, in der die Turngemeinde entstanden ist: Die Zeit der Revolution von 1848/49, der in diesem Jahr vielerorts zurecht in zahlreichen Veranstaltungen in diesem Jahr gedacht wird, um in Zeiten, in denen antidemokratische Kräfte auch in Deutschland am Wirken sind, bewusst an die Anfänge und das Einstehen für Demokratie zu erinnern.
Dass sich auch die Turner aus Osthofen der demokratischen Sache, den endlich in einer gesamtdeutschen Verfassung festgeschriebenen Rechten und dem letztlich – ganz anders als zu Beginn der Revolution – nun verhandelten deutschen Nationalstaat unter preußischer Führung verpflichtet fühlten zeigte sich im Mai 1849, als die reaktionären Kräfte dazu übergingen, die Revolution niederringen.
Zu dieser Zeit wurde nämlich die so genannte Reichsverfassungskampagne ins Leben gerufen und die Turner dazu aufgefordert, sich als aktive Revolutionäre gegen die Staatsmacht aufzulehnen. Mit anderen Worten: Leib und Leben für ihre politischen Ideale zu riskieren! Belegt ist, dass der Turnwart Gustav Weißheimer einer der ersten war, der dem nächtlichen Ruf in die Pfalz folgte und sich ihm in den folgenden Tagen viele weitere Turner anschlossen. Denn jetzt war der Moment gekommen, bei dem es ernst wurde, der Moment, in dem man dachte, es käme zu einem umfassenden Volksaufstand, der die Fürsten mit Gewalt dazu zwingen würde, ihre dem Volk vor einem Jahr gegebenen Versprechungen einzulösen. Letztlich ist der Aufstand ausgeblieben, die Revolution scheiterte.
Dass Gustav Weißheimer und seine Turnerfreude glücklicherweise die Gefechte bei Landau überlebten und wohlbehalten nach Osthofen zurückkehrten, war ein Glück für den Fortbestand der Idee der Turngemeinde.
Denn er und seine Freunde Louis Kaibel, Christian Melolth, Hermann Laist und Fritz Wallrapp trafen sich während der Jahr 1850 bis 1861 im Geheimen zum damals illegalen Turnen im Gasthaus „Zur Luft“, im Schlichterhof und wie betont wird, „sicherheitshalber“, in der „Brille“.
Das Gründungsmitglied Louis Kaibel erinnert 40 Jahre später: „Dass dann auch der Antrieb zu einem eigentlichen Verein mit größerer Mitgliederzahl von uns ausgegangen ist, liegt in der Natur der Sache, da man um unser ‚öffentliches Geheimnis’ wußte. Nachdem die Menschheit wieder das Haupt erheben zu dürfen glaubte, bat man uns, den Verein als solchen wieder ins Leben zu rufen.“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich hoffe, sie sehen mir nach, wenn ich am heutigen Abend dem Motto der TGO „Mit Tradition und Zukunft“ der Tradition so viel Platz eingeräumt habe, doch ich glaube, es ist wichtig die eigene Vereinstradition einer gelebten Gemeinschaft, die zusammen für ihre Ideale einsteht zu kennen, um die passenden Lehren für die Gegenwart und die Zukunft ziehen zu können.
Einer der dies tat, war Carl Schill, der als „Turnvater“ der rheinhessischen Turnbewegung gilt und der einen ganz eigenen Vortrag verdient hätte, um seine Verdienste adäquat zu würdigen.
Für die TGO am wichtigsten: Er war es, der die Initiative ergriff, eine eigene Turnhalle zu errichten. Und sicherlich setzte er sich bei seinem Freund Gustav Weißheimer dafür ein, dass dessen Bruder seinen Acker für die Halle und den späteren Sportplatz an die Turngemeinde verkaufte, die dann u. a. durch die Einbeziehung der Mitglieder in Form von Schuldverschreibungen, d.h. Schuldscheinen a 20 Mark, 1886 realisiert werden konnte.
Die Turnhalle erwies sich als großer Gewinn für die Turngemeinde, sie war Veranstaltungsort für Turnerbälle, für Konzerte, für Feste, für Fastnachtsveranstaltungen oder Weinproben.
Wie rege die Osthofener die Veranstaltungen annahmen, zeigt sich beispielsweise an der Bilanz des Osthofener Markes von 1891
In der Festschrift zu 125-jährigen Jubiläum heißt es: 18 Flaschen Deidesheimer, „5 Flaschen Champagner, 1300 Liter Schoppenwein, 251 Flaschen Wein a 1 Mark, 276 Flaschen Wein a 1,50 €, 65 Flaschen Rotwein und 1600 Flaschen Wasser.“
Es würde zu weit führen, die Geschichte der TGO an einem Tag wie heute in epischer Breite zu präsentieren, dafür wäre wohl sicherlich eine Ausstellung oder ähnliches in der Carl Schill-Turnhalle geeigneter, die ich hiermit anregen möchte.
Lassen Sie mich am Ende meines Vortrags noch einen Blick in die Gegenwart werfen: Die Satzungen des Jahres 1848 lassen sich nicht mehr auf auf die heutige Zeit übertragen, obwohl es wünschenswert wäre, wenn sich alle Mitglieder nach dem oben erwähnten Paragraphen 2 von damals richten würden, der jedes Mitglied dazu verpflichtete, sich nach Möglichkeit an den Vereinstätigkeiten zu beteiligen.
Denn erst dann, wenn viele mitmachen, kann man von einer gewachsene Vereinskultur, einem generationsübergreifendem Zusammenwirken von Mitgliedern in der TGO, wie ich es selbst viele Jahre bei den Handballern erfahren durfte, sprechen.
In der heutigen Zeit ist es mit dem Ehrenamt so eine Sache und es ist ein allgemeines Phänomen, dass sich immer weniger Menschen ehrenamtlich engagieren.
Glücklicherweise ist die TGO heute ein modern ausgerichteter Verein, mit zahlreichen Abteilungen und Kursangeboten für Groß und Klein.
Der Verein geht schon lange weit über das traditionelle Turnen hinaus und hat es dadurch geschafft, sich durch alle Krisen und insbesondere die Corona-Krise zu behaupten. Hier wurde nicht der Kopf in den Sand gesteckt, sondern man hat neue Angebote geschaffen, wie online-Kurse u.v.m., um den Verein am Laufen zu halten. Dafür und für den persönlichen Einsatz von allen im Verein tätigen, sein an dieser Stelle im Namen der Stadt herzlich gedankt.
Die TGO ist heute als größter Verein mit fast 2000 Mitgliedern aber auch eine unglaublich wichtige soziale Institution in Osthofen, die es Menschen jeden Alters ermöglicht, sich individuell und im Mannschaftssport sportlich zu betätigen. Sie ist ein Verein, der neue Wege geht, der z.B. bei den Ferienspielen oder aber beim Zirkusprojekt auch zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie beiträgt. Die TGO war, ist und sollte meiner Meinung nach unbedingt in Zukunft ein Verein sein, in dem es möglich ist, das zu erleben, was in unserer durch viele Krisen geschüttelten Zeit notwendiger denn je erscheint: die Gemeinschaft im Verein.
Denn das Erleben von Gemeinschaft im Verein, das Aneinemstrangziehen für gemeinsame Ziele, auch das Gesellige, das Feiern, die Veranstaltungen uvm. tragen seit jeher dazu bei, dass man sich in der TGO einer Art großen familiären Gemeinschaft zuhause fühlen kann.
All diese Dinge sind es, die aus Mitgliedern eben nicht nur Mitglieder macht, sondern Menschen, die sich engagieren, weil sie sich mit dem Verein und Osthofen identifizieren. All diese Dinge sind mit großem zeitlichem Engagement verbunden und durch den Wegfall der Carl-Schill-Turnhalle als Veranstaltungsstätte nicht eben leichter durchführbar geworden. Doch das ist ein anderes Thema, für das vielleicht in der Zukunft eine gute Lösung gefunden werden wird.
Heute möchte ich es abschließend nicht versäumen, dem Vorstand und allen Anwesenden , die in der TGO in der Vergangenheit Verantwortung übernommen haben und in der Gegenwart Verantwortung übernehmen als Bürgermeister im Namen der Stadt aufs Herzlichste zu danken.
Osthofen, den 23.4.2023
„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“.
Sehr geehrte Mitglieder des Arbeitskreises 9. November,
meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,
der 9. November, an dem wir uns hier vor dem Alten Rathaus versammelt haben, ist Jahr für Jahr ein Tag der Mahnung. Ein Tag, der uns gerade in diesen Zeiten, in denen wir vor dem Hintergrund des Terrors gegen Israel und des Krieges im Gaza-Streifen beinahe täglich mit den Themen Diskriminierung und Antisemitismus konfrontiert werden, besonders nahe geht. In den Nachrichten und insbesondere in den sozialen Netzwerken wird uns in erschreckender Weise vor Augen geführt, dass Diskriminierung und Antisemitismus keine Phänome der Vergangenheit im Geschichtsbuch sind, sondern aktueller denn je.
Umso wichtiger ist es, dass der Arbeitskreis 9. November und all diejenigen, die sich Jahr für Jahr durch ihre Beiträge bei der Gedenkveranstaltung anlässlich der Reichspogromnacht engagieren, heute ein deutliches Zeichen gegen jede Form von Antisemitismus setzten und an das Unrecht und Leid erinnern, das den Lauf der Geschichte bis heute prägt.
Erinnern wir uns also an die Novemberpogrome des Jahres 1938, um gemeinsam zu gedenken:
Denn vor 85 Jahren wurden systematisch mindestens 1406 Synagogen von den Nationalsozialisten mit dem Ziel in Brand gesetzt, die jüdische Kultur sukzessive zu zerstören – so auch in Osthofen, hier bei uns, nur wenige hundert Meter vom Standort der Osthofener Synagoge in der Friedrich-Ebert-Straße entfernt. Sie muss für die jüdische Bevölkerung in Osthofen sozialer und religiöser Ort zugleich gewesen sein, dessen Zerstörung auch dem Antissemitismus in Deutschland eine ganz neue Qualität gab.
Der Lehrer, der an jenem 10. November im Jahre 1938, einem Donnerstag wie heute, zwischen 10 und 12 Uhr mit seiner Klasse auf de Kirchberg ging, um den Synagogenbrand anzusehen, soll gesagt haben:
„Diesen Tag müsst ihr euch merken. Das ist heute historisches Ereignis.“
Wie auch immer diese Äußerung gemeint war: Der 9. November ist vielfach als der „Schicksalstag der Deutschen“ beschrieben worden. Denn am 9. November begann der Tag der Revolution am Kriegsende 1918, es war der Tag des gescheiterten Hitler-Putsches 1923 und auch der Tag des Mauerfalls im Jahr 1989 fällt auf diesem Tag.
Aber kein Ereignis hat sich im kollektiven Gedächtnis so sehr verankert wie dem 9. November 1938: dem Tag als die Synagogen brannten und über 7000 jüdische Geschäfte zerstört wurden, an dem auch in der Salzgasse, im Unteren Flutgraben, in der Schiller-Straße Wohnungen geplündert und jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger misshandelt wurden.
Damit wurde der vorläufige Höhepunkt einer Kampagne der Ausgrenzung, Intoleranz, des Hassschürens und der Verfolgung gegen Menschen jüdischen Glaubens für jeden Sichtbar in Szene gesetzt.
Adolf Hitler hatte seine nationalsozialistische Ideologie schon früh offen propagiert und die jüdische Bevölkerung gezielt politisch-moralischen Feindbild stilisiert.
Juden wurden nicht als Religionsgemeinschaft, sondern als parasitäre, minderwertige Rasse angesehen, die es zu verdrängen, zu isolieren und schließlich zu vernichten galt.
Der Antisemitismus wurde per Gesetz legitimiert, die jüdische Bevölkerung gedemütigt, entrechtet und aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.
Mit den Novemberpogromen wurde die Judenhetze auf ein neues Niveau gehoben: Das Ergebnis sind waren die Vernichtungslager, in denen Juden wie Ware planmäßig behandelt und perfide ermordet wurden. Manche von Ihnen stammen auch aus Osthofen. Der Arbeitskreis 9. November hat bislang 39 von ihnen identifizieren können.
All dies soll uns in der Stunde des Gedenkens dazu mahnen, aufmerksam zu sein, antisemitistische Parolen ernst zu nehmen und diejenigen, die sie verwenden nicht zu unterschätzen.
Mit der Mahnung ist jedoch auch der Appell verbunden. Der Appell den Mut zu haben, dem Schürern von Hass auch politisch entgegenzutreten, ihnen nicht zu folgen und ihnen keinen Raum in unserer Gesellschaft zu geben. Genau das taten in den vergangenen Tagen der Bundeskanzler und Bundespräsident, wie der Presse zu entnehmen war. Es zeigt einmal mehr, in welch einer angespannten und krisenbehafteten Zeit wir leben, in der Antisemitismus von verschiedenen Seiten offen zur Schau gestellt – und was in meinen Augen noch schlimmer ist, viel zu oft billigend in Kauf genommen wird.
Das billigende Inkaufnehmen ist gerade an einem Tag wie heute ein unerträglicher Zustand, denn gerade heute holen uns die aus den Medien bekannten schrecklichen Bilder der Vergangenheit einmal mehr ein und machen uns betroffen.
Wir blicken heute auf die lokalen, konkreten Schicksale von zwei Opfern, um sie aus dem anonymen, distanzierten Kontext der großen Geschichte herauslösen und damit sie für uns greifbarer machen.
Machen wir uns immer wieder bewusst, dass Politik und ihr Umgang mit ihr immer auch Verantwortung bedeutet und dass die Erinnerung an das Geschehene wichtig ist.
Aus diesem Grunde wurde in Osthofen nun auch der erste Stolperstein vor dem Haus des früheren Papierfabrikanten Ludwig Ebert in der Schwerdstraße gelegt und eine Spendenbox für die Reparatur seiner Grabsteininschrift eingerichtet. Wir erinnern auch dadurch an das Leid der Menschen, die wegen ihrer Religionszugehörigkeit nicht nur ihr Hab und Gut, sondern millionenfach auch ihr Leben verloren haben.
Doch nicht nur die Erinnerungskultur ist wichtig, sondern auch die Pflege der Kontakte zu den Nachfahren von aus Osthofen geflüchteten Jüdinnen und Juden, wie der Familie Blumenthal, die in diesem Jahr Osthofen besucht haben.
Mein Dank gilt an dieser Stelle den Aktiven des städtischen Arbeitskreises 9. November und all den Mitwirkenden, die sich seit vielen Jahren der Aufarbeitung der Geschichte von Verfolgung und Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung widmen und all jenen, die dem heutigen Tag einen so würdevollen Rahmen geben und insbesondere auch meinen Schülerinnen und Schülern aus dem Geschichtsleistungskurs.
Gedenken wir nun also gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus, zu der auch die jüdische Gemeinde in Osthofen zählte in einer Minute des Schweigens.